Der Problemlöser

Der stark sehbehinderte Willi Neuner kandidiert als Parteifreier für den Gemeinderat. Er brächte Qualitäten mit, von denen Tutzing profitieren könnte

Von Gerhard Summer (SZ Starnberg vom 17. 02. 2014)

Tutzing - Draußen scheint die Sonne, als wär' der Winter längst Geschichte, aber Willi Neuner ist heute Vormittag noch nicht so recht in Schwung gekommen. Auf seinem Laptop gleiten Langläufer durch den Kunstschnee von Sotschi, der Schweizer Dario Cologna wird am Ende siegen. Neuner wischt mit einer gemurmelten Entschuldigung einen Kaffeefleck vom Esstisch. Er hatte vor, mit dem Bulldog Mist für ein Frühbeet zu holen. Aber der Traktor wollte nicht so, wie er sollte. Keine große Sache. Der Traubinger kann das selber richten. Aber erstaunlich ist das schon: dass er überhaupt Traktor fährt. Ja, sagt Willi Neuner und lacht, auf seinem eigenen Grundstück kurve er sehr wohl mit dem Bulldog herum, langsam natürlich und vorsichtig. Aber nicht auf der Straße, das dürfte er auch gar nicht. Der 50-Jährige hat keinen Führerschein.

Der drahtig-muskulöse Diplominformatiker, der als Parteifreier auf Platz 4 der ÖDP-Liste für den Gemeinderat Tutzing kandidiert, war früher selbst Leistungssportler. Er nahm als Langläufer an den Winter-Paralympics 1984 in Innsbruck teil, abgeschnitten hat er damals "ned so guad". Wer ihm zum ersten Mal begegnet, wird womöglich irritiert sein. Denn Neuner bewegt sich zwar bemerkenswert sicher, aber sein Blick geht immer ins Ungefähre. Die Kopfhaltung ist die eines Suchenden. Sein linkes Auge flackert, das rechte bleibt starr. Tatsächlich ist er laut Gesetz blind. Auf dem rechten Auge sieht er überhaupt nichts, mit dem linken fünf Prozent. Wer wissen will, was das bedeutet, muss nur eine fettverschmierte Brille aufsetzen und ein Auge zukneifen: So verengt und trübt sich das Bild. Willi Neuner ist mit grauem Star geboren, die Ärzte nahmen an, dass seine Mutter Röteln hatte, obwohl die Krankheit nicht zum Ausbruch kam. Eine Operation ging schief, er war damals 13 Monate alt. "Des is' so, des kann ma' ned ändern, es is' müßig, sich Was-wäre-wenn-Gedanken zu machen", sagt Neuner. "Ich seh' fünf Prozent, ich weiß nicht, was 100 sind, aber ich leb' eigentlich gut damit."

Mehr noch, die Behinderung hat sich auch als Gabe erwiesen. Denn Willi Neuner ist zum Problemlöser geworden, weil er stets vor Schwierigkeiten stand, die Menschen ohne Seheinschränkung gar nicht kennen. Nach der Blindenschule in München sollte er einen typischen Blindenberuf ergreifen, Masseur oder Telefonist. Aber er hatte keine Lust dazu. Er machte am Adolf-Weber-Gymnasium sein Abitur, dort war 1979 ein Integrationsversuch für Blinde gestartet worden, und studierte 1983 an der TU München Informatik. Sein Nebenfach war Mathematik. Und natürlich musste sich Neuner an der Schule und an der Uni erst einmal alles organisieren, "das ist immer ein Sich-neu-Erfinden". Heute arbeitet er mit Lupe, Fernsehlesegerät oder der Handykamera, um die Schrift zu vergrößern. Damals gab es kaum elektronische Hilfsmittel, das Internet war noch in weiter Ferne. Neuner erklärte also Professoren, dass sie laut sagen müssen, was sie an die Tafel schreiben. Und er und seine Lehrer experimentierten so lange, bis sie eine Lösung fanden. So kam es, dass Neuner schon mal eine schriftliche Prüfung mündlich absolvieren musste.

Dem Informatiker, der mit seiner Freundin, Katze Momo und dem einäugigen Kater Cäsar in seinem Elternhaus in Traubing lebt und als einer von 20 Software-Entwicklern in einer kleinen Firma in Neuperlach-Süd arbeitet, glückten zuletzt zwei Kunststücke. Weil er sich darum kümmerte, den Bedarf anzumelden, bekam der Tutzinger Ortsteil schnelles Internet. Und er brachte die Bauern, die Land für den Hochwasserschutz von Traubing abtreten sollen, an den Verhandlungstisch zurück. Seine Erklärung: "Ich sprech' halt doch noch die Sprache der Bauern, ihab' keine Sprachbarriere, die hat halt ein Jurist" wie Bürgermeister Stephan Wanner. Neuner sieht sich ohnehin als Kandidat, der den einfachen Leuten, den Arbeitern, die auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen sind, eine Stimme gibt. Er setzt sich für den Breitbandausbau ein, für bessere Busverbindungen und dafür, dass die Ortschaften attraktiver und sicherer werden für Fußgänger. Transparenz ist für ihn, der das Internet als wichtige Informationsquelle nutzt, ein "Riesenpunkt". "Der Gemeinderat muss bürgerfreundlicher werden", sagt er, "wenn man noch nicht mal die Tagesordnung hat, kann man nicht verfolgen, was im Sitzungssaal abgeht". Und die Gemeinderatsprotokolle seien so ungenau, dass sich nach einem Jahr kaum noch nachvollziehen lasse, wie es zu Beschlüssen kam.

Sollte Neuner gewählt werden, wäre er neben dem Weßlinger Gemeinderat Klaus Angerbauer der zweite blinde Kommunalpolitiker im Landkreis. Er brächte Qualitäten mit, von denen Tutzing nur profitieren könnte: "Mein Job in der Firma ist die Analyse, was falsch läuft, wie Fehler entstehen, weil ich darin geschult bin, Probleme zu lösen. Mein Job ist Problemlöser."



© Willi Neuner 2020 Impressum